Ich begrüsse Euch auf einer schicksalhaften Landesmitgliederversammlung, ich begrüße Euch zu einer erwartungsvollen Aufstellungsversammlung und eröffne diesen Parteimarathon gemeinsam mit meinen wundervollen Gefährten, den großartigen Mitgliedern des Landesvorstands Berlin.

Es wäre ein Leichtes, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken, zu resignieren, wieder zu alten Ufern zurückzukehren, den Stahl des Klassenkampfes in linken Kadern neu zu härten oder sich einfach nur von der Vielfalt im Netz und an den Konsolen ablenken zu lassen. Ich selbst könnte mich einfach zur nächsten Tournee verabschieden und in den seeligen Rausch eintauchen, den Sex and Drugs and Rock ’n‘ Roll so mit sich bringt.

Warum machen wir dann den Scheiß?
Weil wir müssen – Wir müssen ein neues Kapitel aufschlagen, was sag ich, schreiben – und es muss mutig sein, kraftvoll, visionär, idealistisch, progressiv und emanzipativ.

Es war sehr leicht für die Neuartigkeit der Piraten einzustehen, als es hip und modern war, als das Digitale bei den Meisten noch gar nicht angekommen war. Jetzt, in einer Zeit, in der die geschlossenen Infrastrukturen immer stärker und größer werden, die Neutralität des Netzes fällt, wenn die Überwachung alle Lebensbereiche und nicht mehr nur den E-Mail-Verkehr betrifft, wenn die Grenzzäune wieder höher und die Mauern dicker werden, damit wir die Schreie der Ertrinkenden nicht hören, wenn die multinationalen Konzerne zum letzten großen Kampf zur endgültige Aufteilung der Welt blasen und Staaten diese Interessen unbemerkt und geräuschlos mit Drohnen verbrecherisch durchsetzen oder die Daseinsfürsorge verscherbeln. Wenn Waffen Made in Germany das alte Celan Zitat „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ mit neuer Angst beleben, wenn die Gesellschaft längst im Ellenbogenkapitalismus konditioniert ist, das Buckeln nach oben, das Treten nach unten und die Selbstausbeutung als Fitnessdisziplin des Neoliberalismus gefeiert wird.
In dieser Zeit werden die Piraten dringender gebraucht als je zuvor.

Denn wenn der Mob in seinen geschlossenen Infrastrukturen, den Social Networks, den Echokammern des Grauens an allen Ecken der Gesellschaft seinen völkisch-nationalen Aufstand hochkocht und herbeilügt, wenn Flüchtlingsheime brennen und Polizeigewalt in Berlin eskaliert wie im letzten Jahrhundert, wenn im Zweifel Staat und Polizei auf Grundrechte scheißen wie man gerade erst in der Rigaerstraße sehen konnte. Inklusive Gewalt gegen Familien und Kinder und der Innensenator dafür nur zynischen Menschenhass übrig hat.

Genau dann, wenn diese Dinge passieren, wird das Vakuum und die Dringlichkeit neuer politischer Beteiligungtools offensichtlicher denn je. Um auf der einen Seite jenen, denen die Daseinsfürsorge, Freiheit und Menschlichkeit geraubt wird eine Plattform der Einflussnahme zu bauen und um sich auf der anderen Seite gegen die Echokammern des rechten Mobs zu wehren, die die Regierenden längst als wohlfeile Erklärung für ihre totalitären Repressalien innerhalb und ausserhalb des Netzes ausgemacht haben und mit denen Menschen noch mehr gegeneinander Aufgehetzt werden.

Transparenz für alles Staatliche und Schutz des Privaten, Partizipation und Emanzipation, Bildung und Daseinsfürsorge sind das wesentliche Gegengift gegen die Auflösungserscheinungen gesellschaftlichen Miteinanders. Das sind die Eckpfeiler piratigen Humanismus – aber sie können nicht in der industriellen Monokultur wachsen. Sie können nur in einer grundsätzlich reformierten digitalen Beteiligungskultur gedeihen. Wenn ich in unsere Anträge blicke, dann sehe ich wie sie von emanzipativer, progressiver Sichtweise durchdrungen sind.

Wer hier einen Rechtsruck sehen möchte, kann nur Wahlkampf für eine Linkspartei machen, die jetzt mit einer Frischzellenkur in Berlin versucht zu vertuschen, dass wesentliche Teile des Elends von heute in ihrer eigenen Regierungszeit von 2002 bis 2011 zu finden sind. So heftet man sich gerne und schnell die emanzipativen Themen wie Bedingungsloses Grundeinkommen und Daseinsfürsorge, Grenzenlosigkeit und neuerdings auch die digitale Revolution an die Brust um sie dann in einer neuen gelähmt bräsigen rot-rot-grünen Regierungsverantwortung zu vergessen.

Die Politik der Piraten war nie auf eine Legislatur angedacht, während das Politiksystem von heute auf das Vergessen setzt, auf die Aufmerksamkeitsökonomie und den schnellen populistischen Erfolg für das eigene Weiterkommen.
Der Gesellschaftsentwurf der Piraten baut nicht nur auf ein positives Menschenbild. Dieser Entwurf lässt sich nicht innerhalb von fünf Jahren realisieren. Er beginnt bei einem Zyklus der Bildungspolitik, denn Partizipation muss gelernt sein. Sie erfordert Demut gegenüber der Vielfalt, gegenüber Minderheiten und auch die Verantwortung der Mehrheit, mit ihrer Stimme sorgsam und nicht zu lautstark umzugehen.

Auch wenn manche 2011 und 2012 Eingetretene sich einen kurzen und komfortablen Weg in die Ämter und Funktionen erhofften, ist der Weg der Piraten von Langfristigkeit und Dornen gezeichnet. Wenn der erste Berg erklommen ist, taucht im Nebel der nächste auf, den es zu erklimmen gilt und er erscheint noch höher.
Viele haben es sich mittlerweile auf einer Bergkuppe gemütlich gemacht oder gar den Rückweg angetreten. Viele haben einen präsidialen, angepassten Duktus entwickelt. Doch für unseren Weg brauchen wir das rebellische, unangepasste, antiautoritäre Potential, all das wofür uns mal die Berliner gewählt hatten. Den unerschöpflichen Mut, die Verrücktheit, die Träumerei – aber eben mit der unerschütterlichen Sicherheit: So wie es jetzt läuft, kanns‘ nicht weitergehen.

Diesen Mut will ich jetzt bei Euch wieder erwecken, wenn wir jetzt das Wahlprogramm gemeinsam erstellen und eine Liste wählen. Ich will Euer Strahlen wieder sehen. Ich will die Schönheit unseres Menschenbildes aus jeder Zeile des kommenden Wahlprogramms lesen und in Eure Herzen blicken können. So wie jede Berlinerin und jeder Berliner.

Und ich sage Euch: Gerade jetzt sollten wir einen regierenden Bürgermeisterkandidaten oder eine Bürgermeisterkandidatin aufstellen. Schon alleine um als Partei, die im Abgeordnetenhaus vertreten ist, auf Augenhöhe mit den anderen Bürgermeisterkandidaten auf den Podien zu diskutieren. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen um Aufmerksamkeit zu erzeugen: Im Netz, auf der Straße, auf Podien, mit Guerilliataktik, frechen anarchischen Aktionen – immer mit dem Mut, die Menschen zum Mitdenken und Mitmachen anzuregen. Wir müssen den Finger in die Wunde derer legen, die seit Jahrzehnten nur einen Bruchteil ihrer Energie für das Wohl des Miteinanders investieren, obwohl sie dafür gewählt wurden.
Wir brauchen eine Liste von Individualisten, die strahlen und kämpfen und die Ideale und Traditionen wiedererwecken, die uns einst so stark gemacht haben.
Freiheit, Bildung, Solidarität, Teilhabe, Gesundheitsversorgung, Recht auf Arbeit und Wohnung, Recht auf Meinungsfreiheit und Entfaltung, Recht auf intakte Natur und Umwelt – All das undogmatisch und unideologisch: Denn wir sind keine Klassenkämpfer und Ideologen – wir sind die Unterstützer einer lebenswerten Zukunft. Wir sind die, die Kooperation über Konfrontation stellen, Gelingen für das Ganze über den veralteten Mythos des persönlichen Erfolges stellen.

Als Piraten entern wir alte Erfolgsmuster, in denen „Reichwerden“ oberstes Ziel war und machen klar, dass das „Menschwerden“ – unser Menschenbild – nur in einer förderlichen Gemeinschaft faszinierender Unterschiedlichkeit und unter Einbeziehung unseres ganzen menschliches Potentials sich entfalten kann.
Jede Generation hat die Chance, etwas Großes zu gestalten, an einer Revolution teilzuhaben und aufzubrechen. Der Aufbruch unserer Generation ist und war der digitale Wandel. Ein Wandel, der in unseren Herzen so tief mit der Teilhabe und Freiheit verbunden ist und dessen Triebe unsere Gesellschaft grundlegend erneuern werden.
Packen wir es an – in unserem Zukunftslabor Berlin. Beleben wir das Motto global Denken und regional Handeln mit neuem Leben.

Und Ihr geliebten Kritiker und geschätzten Gegner, die ihr uns schon abschreibt: Unterschätzt nicht unsere Lernfähigkeit! Unterschätzt nicht den Willen und die Fähigkeit der Menschen in diesem Raum, dieses Bundesland nachhaltig zu verändern. Wir werden weiterhin die verfilzten Strukturen, die den ganzen Betrug ermöglichen, aufbrechen!
Wir werden entlarven, aufdecken und klar machen, was im Verborgenen vor sich hin schimmelt und die Gesellschaft vergiftet.

Wir Piraten waren, sind und werden sein: Die unbestechlichen Stellvertreter der Bürger im Parlament. Die einzigen nicht-verstrickten und nicht-verkauften, wahrhaftigen Stellvertreter der Berlinerinnen und Berliner im Abgeordnetenhaus!
Wir rufen allen entgegen: „Wir sind die Stimme des Aufbruchs, seid ihr es auch?

Und jetzt ran ans‘ Wahlprogramm!

Bruno Kramm

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